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Der leere Raum

Michael Seibel • Ästhetik: Zur Arbeit von Peter Brook   (Last Update: 15.05.2014)

Wir sind dabei, einen philosophischen Begriff von Ästhetik zu erarbeiten. Und wir sind dabei ganz am Anfang. Nicht ganz natürlich. Selbstverständlich ist uns bewusst, dass sich ein Kunstbegriff heute nicht mehr auf ein auch nur im mindesten allgemeingültiges Konzept der Schönheit mehr stützt und schon gar nicht auf bestimmte Abbildungsideale. Aber diese begründete Skepsis lässt sich nicht so ohne weiteres durch einen besseren Kunstbegriff füllen. Kann es heute überhaupt noch einen sinnvollen Begriff von Ästhetik geben? Das ist unsere Frage. Ein herrlich universeller Satz von Peter Brook hat unser Interesse erregt und ist ein Kandidat dafür, ein interessanter Ansatzpunkt für die Frage nach dem Ästhetischen zu sein:

Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“
(Peter Brook, der leere Raum, Berlin 1983, S.9)

Der Satz ist umso vielversprechender, als die Szenerie, die er vor uns hinstellt, ubiquitär ist. Jeder Ort kann Bühne sein. Und ist es wohl auch ganz alltäglich. Wenn es ständig um ein Geschehen geht, das Räume füllt, dann ist prinzipiell alles, was wir von morgens bis abends tun, jede Füllung des Raumes unter den Augen des Anderen ästhetisch beschreibbar, sowohl im Alltag wie in explizit künstlerischen Produktionen. Genau das tun wir ja ständig: wir füllen Räume mit dem aus, was wir tun und setzen uns dabei dem Widerspruch und Zuspruch der anderen aus. Nur kommt es uns nicht so vor, als sei das Theater. Wir unterscheiden berufliche Rollen, familiale Rollen und sehr viel mehr.

Aber was wäre der Unterschied, ob man einen Raum und die ihn füllenden Geschehnisse in ästhetischen Kategorien oder in nicht ästhetischen Kategorien beschreibt? Gibt es Spezifika einer ästhetischen Beschreibung? Nun sind wir um Beschreibungen in Termen von Ästhetik keineswegs verlegen. Geschmacksurteile sind in der Regel ganz leicht zu fällen. Nur leider sind sie auch uns selbst schwer verständlich. Warum urteilst du, wie du urteilst? Wie kommst du darauf?

Folgen wir Brook und beginnen wir das Nachdenken über Ästhetik nicht mit dem Begriff Schönheit, sondern wie er mit dem Begriff Lebendigkeit, bzw. dessen Gegenteil Tödlichkeit.

Brook hatte gefragt: Was führt dazu, dass es Theateraufführungen gibt, die tot wirken? Ob das der Fall ist, kann man seiner Meinung nach unmittelbar erleben. Alle, die am Theater teilnehmen, das Publikum, die Schauspieler und ebenso der Regisseur erleben unmittelbar, ob eine Aufführung tot wirkt oder nicht. Nur – und das sagt er ausdrücklich – haben wir kein eindeutiges Kriterium, wann etwas tot ist, so wie es ein Arzt hätte, wenn es um einen Körper geht. Es gibt nicht nur keine allgemein brauchbaren, eindeutigen Kriterien, sondern es gibt, so Brook, Situationen, in denen z.B. Zuschauer gerade totes Theater besonders angenehm finden. Er meint, das sei gerade dann der Fall, wenn sie einfach das sehen wollen, woran sie bisher schon am meisten gewöhnt sind.

Das Leben und Tod eines Theaterstücks sind sozusagen evident, aber diese Evidenz ist nicht allgemein verbindlich. Die Möglichkeit, sich darüber zu unterhalten, was eine bestimmte Aufführung zu einer toten Angelegenheit macht, scheint auf die Teilnehmer am Theater beschränkt, die die grundlegende Erfahrung überhaupt teilen, es mit etwas Toten zu tun zu haben.

Der Unterschied zwischen lebendig und tot in Bezug auf Inszenierungen bleibt auch für Brook trotz seiner jahrzehntelangen intensiven Beschäftigung damit überraschend, nicht abschließend beschreibbar. Was am Ende tot und was lebendig innerhalb einer einzelnen Theatervorstellung sein wird, ist auch für den Regisseur unvorhersagbar. Brooks Arbeit findet sich damit jedoch keineswegs ab. Es scheint Faktoren zu geben, die Anteil am Gelingen haben. Manchmal, nicht immer.

Dabei scheint die Aufmerksamkeit des Publikums eine Art Messinstrument dafür zu sein, was lebendig und was tot in der Darstellung ist. Brook gibt reichhaltige Beispiele für überraschende Erfahrungen vom Gelingen und Misslingen von Darstellungsversuchen und ganzen Aufführungen ein und des selben Stücks mit ein und den selben Schauspielern, kaum dass sich Rahmenbedingungen am Aufführungsort ändern.

Ganz offenbar hätte es keinen Zweck, möglichst alle Rahmenbedingungen zu notieren, um so Misserfolge zu vermeiden. Wiederholbare Erfolge scheinen so nicht herstellbar zu sein. Von einem Ingenieur würde man reproduzierbare Ergebnisse erwarten. Aber von einem Künstler auch? Wie ein bestimmtes Autozubehörteil zu konstruieren ist, damit es langlebig seinen Zweck erfüllt, steht so wenig in einem Lehrbuch wie das, was gute Regiearbeit ausmacht, sondern muss erfahrungsmäßig entwickelt werden. Man erwartet von Ingenieur dann aber ein sicher reproduzierbares Ergebnis. Was ist es demnach eigentlich, was ein Regisseurn durch Erfahrung lernt? Hier liefert Brook Beobachtungsarbeit aus künstlerischer Berufserfahrung. Sicher scheint: Der Schauspieler nutzt Gesten, wenn er etwas darstellen will, also muss er möglichst souverän Gesten erzeugen können. Der Schauspieler spricht, wenn er etwas darstellen will, also muss er sein Sprechen möglichst souverän einsetzen können. Der Schauspieler bewegt sich, also muss er seine Bewegungen bewusst steuern können. Brook vergleicht Schauspieler und Pianisten auf dieser Ebene. Der Vergleich des technischen Könnens fällt bei ihm stark zu Ungunsten der meisten Schauspieler aus. Welche Techniken werden im einzelnen gebraucht und welche nicht? Um zeitgemäß malen zu können, sind die technischen Fähigkeiten alter Meister wahrscheinlich nicht erforderlich. Sind denn die selben Fähigkeiten von einem Schauspieler erforderlich, die um 1900 ein Stanislawski von seinen Schauspielern erwartet hätte oder nicht (auch) ganz andere, mit denen Stanislawski nicht viel hätte anfangen können?





Die Technik des Inszenierens, Entwerfens, Sprechens, Über-die-Bühne-Gehens, Sitzens selbst Zuhörens — wird einfach nicht genügend beherrscht“.
(Peter Brook, der leere Raum, Berlin 1983, S.42)

Aber kann sie je genug beherrscht werden? Was hieße es denn, sie zu beherrschen?

Man muß sich aber vergegenwärtigen, daß ein permanentes Ensemble zur Tödlichkeit verdammt ist, wenn es ohne Ziel und daher auch ohne Methode und daher ohne Schule existiert. Mit Schule meine ich selbstverständlich keine Turnhalle, wo der Schauspieler besessen seine Glieder übt. Das Muskelbeugen allein kann keine Kunst entwickeln, Tonleitern machen nicht den Pianisten, und Fingerübungen helfen nicht dem Malerpinsel; und doch spielt der Pianist viele Stunden am Tag Fingerübungen, und japanische Maler üben ihr Leben lang das Zeichnen eines vollkommenen Kreises. Die Schauspielkunst stellt in mancher Hinsicht von allen Künsten die höchsten Anforderungen, und ohne ständige Schulung wird der Schauspieler auf der Mitte des Weges stehenbleiben.“
(Peter Brook, der leere Raum, Berlin 1983, S.40)

Was verspricht der Regisseur, da er doch nicht über reproduzierbare Erfolgsparameter verfügt, eigentlich den von ihm angeleiteten Schauspielern? Woher nimmt er „Ziel“, „Methode“, „Schule“, „Kompetenz“ über das Training technischer Fertigkeiten hinaus? Besetzt der Regisseur da nicht einfach ein Leerstelle, die auch er nicht füllen kann?

Am Ende wird der Schauspieler in jeder einzelnen Sekunde genau eine einzige, jeweils vollständig bestimmte schauspielerische Leistung abliefern. Er wird das zu sehen geben, was er eben zu sehen gibt, sei es dürftig oder perfekt. Es wird keine Freiheitsgrade im Sichtbaren mehr geben. Es wird Zuschauer geben, deren Imagination und deren jeweiliger Sinnhintergrund noch einmal weiter das Gesehene zu jeweils einem bestimmten Erleben im Theater präzisieren werden. Im Erleben wären dann sozusagen auch alle Freiheitsgrade des Imaginären kurzzeitig aufgehoben. Schauspiel und Zuschauen öffnen sich natürlich sogleich in der nächsten Sekunde für weiteres, möglicherweise Überraschendes.

Es scheint unter dem Aspekt von Ästhetik um den gesamten (künstlerischen) Prozess, angefangen beim leeren Raum (bei A), angefangen bei der völligen Unbestimmtheit, die sozusagen ausschließlich aus Freiheitsgraden besteht, bei einem Zustand, in dem noch nichts entschieden ist, bis hin zur vollständigen Bestimmtheit des Werks, der Aufführung ohne jeden noch verbliebenen Freiheitsgrad im Gezeigten (B) wie selbst in der Imagination (C) zu gehen. Der Künstler wird zeigen, was er eben zeigt und der Zuschauer erleben, was er eben erlebt. Die künstlerische Arbeit wäre dann der Weg von A nach B. Die Unterscheidung von Lebendigkeit und Tödlichkeit als erlebbare würde jenseits davon (in C) vollzogen.

Auf dem Weg von A nach B werden Freiheitsgrade ausgeschlossen. Welches Stück soll zur Aufführung kommen? Nehmen wir ein Shakespeare-Drama. Damit sind alle anderen möglichen Texte ausgeschlossen. Die Freiheit, was im leeren Raum passieren wird, wird kleiner, die Bestimmtheit nimmt zu. Das Stück wird interpretiert, Schauspieler werden ausgewählt und geschult. Eine Szenerie wird geschaffen, Details werden erarbeitet. Am Ende wird ein Schauspieler mit leichter Grippe an einem Stadttheater einen Monolog vor einem bestimmten Publikum sprechen. In diesem Augenblick sind alle Freiheitsgrade geschlossen.

Hier kann etwas passieren oder auch nicht: Es gibt auch Säulen der Bestätigung. Das sind die Augenblicke der Erfüllung, die sich einstellen, plötzlich und irgendwo, die Ereignisse, bei denen kollektiv ein totales Erlebnis, ein totales Theater aus Stück und Publikum Aufteilungen wie tödlich, derb und heilig zum Unsinn reduziert. In diesen seltenen Augenblicken sind das Theater der Freude, das der Katharsis, der Feier, der Forschung, des gemeinsam erlebten Gehalts und das lebendige Theater ein und dasselbe.“
(Peter Brook, der leere Raum, Berlin 1983, S.199)

Brook annonciert ein Gelingen, das dann vielleicht doch mit einem gewissen Recht Schönheit zu nennen wäre. Und das scheint mir zentral: Im Gelingen beginnt etwas. (Hermann Hesse: „und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. An Hesse hat Brook vielleicht zu allerletzt gedacht. Obwohl, Ende der 60er Jahre weiß man das nie so genau ...)) Aber eben dorthin will man im künstlerischen Prozess ja erst einmal kommen. Eben dazu wird der „leere Raum“ mit Bestimmungen angefüllt.

Brook betont sehr stark den Herausforderungscharakter, der konzeptuelle Stringenz und spontane Reaktion zugleich verlangt. Und jede einzelne Bestimmung muss die Regie zumindest hypothetisch begründen können. Woher nimmt sie ihre Begründungen? Offenbar nicht aus Wiederholbarkeit.

Irgendwie kommt mir der berühmte Satz aus Francis Ford Coppolas Film „der Pate“ in den Sinn: „Wir werden ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann.“ Wenn man nicht wüsste, dass der Satz im Film eine Ankündigung mafiösen Terrors darstellt, könnte das eine Maxime des Boulevard-Theaters im Umgang mit seinem Besucher abgeben, aber keine, die für Brook in Frage käme.





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